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Zukunftsforscher und Ökonom Dr. Joël Luc Cachelin spricht im Interview darüber, was die Mobilität antreibt, wie deren Zukunftskonzept aussehen könnte und welche Steuerungsmöglichkeiten die Augmented Reality bietet.

 

Herr Cachelin, warum wird Mobilität von Zukunftsforschern als Megatrend bezeichnet?
Weil es eine globale Mittelschicht gibt, die auch aufgrund der noch tiefen Kosten der physischen Mobilität gerade daran ist, den Planeten zu entdecken. Die Menschen erweitern ihren Aktionsradius und geben sich nicht mehr mit der Schweiz oder Europa als Feriendestination zufrieden. Man begibt sich an andere Orte, um intensiver zu leben. Die Digitalisierung fördert diese Ausbreitung der Lebenszone, weil plötzlich alle Orte und Menschen «verfügbar» werden.

Auch früher waren die Menschen zu Beweglichkeit und Ortswechseln gezwungen – meistens aus einem Mangel heraus. Welches sind die Treiber der heutigen Mobilität?
Grundsätzlich treibt uns das Bedürfnis zur Interaktion an. Wir wollen uns mit anderen Menschen austauschen, in der Ferne neue Dinge entdecken. Indem man sich an andere Orte bewegt, möchte man auch sich selbst besser kennenlernen. Je mehr Leute ich treffe und in je mehr unterschiedlichen Netzwerken ich funktioniere, desto mehr Anknüpfungspunkte bekomme ich für die Selbstreflexion. Identität und Selbstverwirklichung sind etwas Endloses. Daneben gibt es durch die globale Wirtschaft auch viel wirtschaftlich motivierte Mobilität, wenn man zum Beispiel an eine Sitzung oder eine Konferenz reist.

Mobilität ist «in», hat aber auch viele negative Seiten.
Ja, sicher. Etwa in Form des Ressourcenverbrauchs oder der Schädigung der Umwelt. Aber auch die Beschleunigung und die dadurch entstehende Ermüdung. Generell haben wir ein Überangebot an Möglichkeiten. Überforderung und Verzettelung sind die Folge. Und ich glaube, auch eine Entwurzelung: Je mehr man unterwegs ist, desto weniger ist man irgendwo zuhause. Es entsteht eine Fragmentierung oder Verflüssigung der Gesellschaft: Immer seltener sind dieselben Leute zur selben Zeit am selben Ort. Werden wir also durch die gesteigerte Mobilität nicht «freier»? Natürlich hat man mehr Möglichkeiten, sich zu bewegen und gar gleichzeitig an mehreren Orten zu sein. Es gibt aber auch den Zwang zu Mobilität und geistiger Beschleunigung. Den Druck, sich immer schneller immer mehr Informationen zuzuführen, ständig seine Geräte zu erneuern. Sonst fällt man aus dem System raus.

Im Verkehr führe die Kommerzialisierung der Mobilität zu deren Entdemokratisierung, schreiben Sie in Ihrer Studie «2050». Wie meinen Sie das?
Wenn man ein Gut auf den freien Markt wirft, heisst das, dass es einen Preis bekommt. Und diesen Preis können nicht alle bezahlen, weil nicht alle ein gleich grosses Portemonnaie haben. Ziel des Marktes ist es ja, von allen Marktteilnehmern den grösstmöglichen Preis abzuschöpfen. Beim Verkehr gibt es ein Spannungsfeld zwischen dem Service public, zu dem alle Zugang haben und für den alle denselben Preis zahlen, und dem freien Markt mit verschiedenen Preisklassen, die sich nicht alle leisten können.

Wie sehen Sie ein funktionierendes Mobilitätskonzept für die Zukunft?
Die Transparenz, die wir durch die Digitalisierung erleben, wird grosse Veränderungen bewirken. Wir alle werden zu Datenlieferanten. Unsere Mobilität wird durch das ständige Tracking sichtbar. Briefträger und Abfallentsorger werden weniger Energie brauchen, weil sie ihre Wege effizienter wählen können. Die Daten erlauben auch eine effizientere Personalplanung und das Eindämmen von Staus. Mobilität wird also dank der Technologie effizienter und ressourcenschonender. Anderseits steigen die Ressourcenpreise. Global betrachtet, steigt auch die Umweltbelastung, und in urbanen Räumen wie Zürich stossen wir mit heutigen Mobilitätskonzepten an Systemgrenzen. Vielleicht liegt also die Zukunft in der Reduktion der Mobilität.

Fachleute setzen Hoffnungen in die kombinierte Mobilität.
Die Augmented Reality wird dazu führen, dass mir ein System sagt, wie ich mich am besten fortbewege. Von A nach B nehme ich das Velo, dann nach C den Zug und dort wartet eine Car-Pooling-Gruppe mit interessanten Leuten auf mich, die mich zu Ort D bringt. Die Frage ist aber, wie weit wir hier gehen wollen. Wenn ich mit meiner Google-Brille auf dem Kopf in eine fremde Stadt reise, dann sagt sie mir: Nimm die Metro, fahr drei Stationen und dann bist du an einem Ort, der dir gefällt. Denn sie kennt meine Vorlieben. Das ist gleichermassen interessant wie gefährlich. Hier sind wir beim Thema Social Engineering. Die Frage ist, wer die Algorithmen schreibt, die steuern, wo wir Menschen hingehen.


ZUR PERSON:

Dr. Joël Luc Cachelin (32) ist Ökonom (Universität St. Gallen), Gründer des Think Tanks «Wissensfabrik» (2009) und freier Berater. Er wohnt und arbeitet in St. Gallen und beschäftigt sich primär mit der Frage, wie das Internet Wirtschaft und Gesellschaft verändert.

PUBLIKATIONEN (u.a.):

«Schattenzeitalter – Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten» (2014), «2050: Megatrends, Alltagswelten, Zukunftsmärkte» (Co-Autor P. Maas), «Offliner – Wer sie sind, was sie antreibt und was sie erreichen wollen» (2015).

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